Gleichberechtigung: Warum Frauen bei Bewerbungen oft immer noch nur zweiter Sieger sind.

Gleichberechtigung. Das Thema ist komplex und kein reines Personalthema. Sondern ein gesellschaftliches. Frauen gelten im Arbeitsleben immer noch als das „schwächere Geschlecht“. Zu den Hintergründen befragte JobStairs Prof. Dr. Wolfgang Jäger. Er ermutigt Frauen, bei Bewerbungen mutig voranzugehen. Selbst wenn das eigene Profil nicht 100-prozentig passt, lohnt sich eine Bewerbung dennoch.

Als kompetenter HR-Experte und Hochschullehrer hat Prof. Jäger in seiner langjährigen Beratungspraxis für börsennotierte Unternehmen und Mittelständler viele Erfahrungen gewonnen. In der Tat gebe es eine feminine Zurückhaltung bei Bewerbungen. Sein Fazit: „Den meisten Frauen mangelt es an Mut. Sie bringen für Bewerbungen noch nicht das erforderliche Selbstbewusstsein auf. Wenn sie glauben, beispielsweise nur eine von mehreren Qualifikationsanforderungen nicht erfüllen zu können, lassen sie von der Bewerbung ab.“

Woran liegt das? Über die Ursachen und Motive für diese Hemmung hat sich Jäger in zahlreichen Gesprächen ein genaues Bild machen können und hat aus den Auswertungen dieser Clearinggespräche mehrere Faktoren extrahiert, die schlüssige Antworten für dieses zögerliche Verhalten bieten.
„Augenfällig ist ein schwächer ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Während Männer oft zur Selbstüberschätzung neigen und Risikofreude an den Tag legen, unterschätzen Frauen häufig ihre Fähigkeiten und ihr Leistungsvermögen. Sie schneiden beispielsweise bei Tests oder im Assessment Centern nur deshalb häufiger schlechter ab, weil sie es sich nicht zutrauen, eine schwierig anmutende Aufgabe zu lösen. Ihr Hang zur Gründlichkeit und Perfektion löst eine Sperre aus, sodass sie wie im Kartenspiel passen, statt zu zocken.“

Dieses zögerliche Verhalten widerspricht indes dem Trend, dass in den Schulen die Jungs längst von den Mädchen überholt worden sind. Mädchen punkten mit besseren Zensuren und laufen beim Abitur den Jungs seit vielen Jahren den Rang ab. Also müssten Frauen aus dieser Lernerfahrung vollstes Vertrauen in ihre Fähigkeiten haben. „Das ist ein Trugschluss“, weiß Professor Jäger. „Der Lernort Schule hält keinem Vergleich mit dem dynamischen Handlungsfeld Berufsleben stand. Entwicklungspsychologisch durchlaufen heranwachsende Frauen eine andere Sozialisation und Enkulturation als ihre gleichaltrigen Mitschüler.“, ergänzt er. Fleiß, Ausdauer, volle Aufmerksamkeit im Unterricht sowie nettes und artiges Benehmen sind Werte, die Lehrkräfte positiv sanktionieren und mit guten Noten honorieren. Junge Frauen passen sich den schulischen Leistungsnormen an, allen Anforderungen zu genügen, einhundertprozentig zu sein. Frauen lernen, auf Nummer sicher zu gehen.
Diese Einstellung erweist sich manches Mal als ein Handicap bei Bewerbungen. „Der Arbeitsmarkt hat gänzlich andere Regeln als der behütete Klassenraum. Was den Jungs in der Schule zum Nachteil gegenüber den Mitschülerinnen gereichte, ist in der freien Wildbahn Arbeitswelt von Vorteil“, erklärt Prof. Jäger. „Sie lernen früh, sich durchzusetzen, eine schlechte Note wegzustecken, haben entdeckt, das Risiko sich lohnt und haben festgestellt, dass sie mit Selbstüberschätzung oft die Poleposition erreichen. Männer gehen oft aufs Ganze.“, führt Prof. Jäger weiter aus.

Ist es überhaupt noch möglich, Frauen aus diesem angelernten neurowissenschaftlichen Mind Lag zu befreien? Häufig reichen ein paar grundlegende Regeln, um bei der Bewerbung nicht in der zweiten Reihe stehen zu müssen.

  1. Bei Bewerbungen über den Schatten springen und Mut haben.

  2. Nicht erst ewig schauen, ob sich das eigene Profil mit den Anforderungen an die ausgeschriebene Position hundertprozentig deckt. Wenn man sich bei drei von fünf fachlichen Qualifikationen sicher ist, diese erfüllen zu können, ist dies der Starschuss für eine Bewerbung.

  3. Nicht zu lange grübeln und abwägen, bis eine anfängliche Sicherheit womöglich schwindet. Erlernten Schulregeln der Gründlichkeit und anschmiegsamen Anpassung gerne mal durchbrechen und positiv an Bewerbungen herangehen. Viele Bewerberinnen haben oft mehr im Portfolio, als die Personaler:innen in den Stellenangeboten verlangen. Diese Stärken und Fähigkeiten gehören in das Bewerbungsschreiben.

  4. Der potenziellen Führungskraft durch Stärken und Fähigkeiten zusätzlichen Nutzen klarmachen. Immer wieder bringen diese zusätzlichen Fertigkeiten (fachlich und sozial) dem Unternehmen einen unverhofften Gewinn.

  5. „No risk, no fun“ ausprobieren. Was kann schon schlimmes passieren? Um sich frei im Regelsystem des Arbeitsmarktes zu bewegen und zu agieren, ist es ratsam, dem schulisch antrainierten femininen Gründlichkeitsdogma zu entsagen.

Trotz Genderdebatte sind leider oft noch viele Stellenangebote in „Männersprache“ abgefasst: Wenn auch nicht im Titel, so doch in der Beschreibung. Maskuline konnotierte Formulierungen schrecken Frauen immer noch ab. In immer mehr Unternehmen und Branchen sind die Personalverantwortlichen sensibilisiert, diese Irritationen von vorherein nicht aufkommen zu lassen.

Professor Jäger verweist noch einen weiteren Störfaktor bei Bewerbungen, der nicht allein auf Frauen zutrifft. „Zur schwächeren Selbsteinschätzung gesellt sich noch eine weitere Fehleinschätzung, die sich als mangelndes Wissen über die Bewerbungsprozesse erweist. Viele glauben, einzig mit den geforderten Qualifikationen einen Schritt weiterzukommen. Dass diese nicht allein den Ausschlag für eine Entscheidung sind, ist den meisten nicht bewusst.“

Oft entscheiden Faktoren wie ein aufmerksamkeitsstarkes Bewerbungsschreiben, zusätzliche Befähigungen wie interkulturelle Kompetenz, längere Auslandsaufenthalte, sportliche Erfolge oder ehrenamtliche Tätigkeiten über die Besetzung. Sich ein Wissen über Bewerbungsprozesse anzueignen, ist ein Lernprozess, den Bewerber persönlich durchlaufen müssen: „Learning by doing! Bewerben Sie sich immer auf alle Stellen, die Sie gerne besitzen möchten“, rät Prof. Jäger.